Alice Miller spricht in diesem Buch über das Thema Kindesmisshandlung und seine Auswirkung auf das Leben der Opfer mit bedrückender Klarheit. Sie fordert mehr Transparenz und Akzeptanz durch die Medien und von der Bevölkerung und ermuntert Betroffene, offen über ihre Erlebnisse zu sprechen und Gefühle wie Wut und Hass über das Geschehene zuzulassen und die Eltern, die Täter, nicht länger zu verherrlichen und zu rechtfertigen. Sie erläutert ihre Thesen anhand zweier prominenter Beispiele, nämlich Hitler und Ceausescu, und gibt eine Antwort auf die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass diese grausamen Diktatoren so erfolgreich im Ausführen ihrer todbringenden Pläne waren. Alice Miller erläutert ebenso, wie die misshandelten Kinder im Erwachsenenalter aus dem Teufelskreis ausbrechen können und ihre destruktiven Handlungsmuster zu erkennen um die gemachten Erfahrungen nicht unbewusst an ihre eigenen Kinder weiterzugeben.
Da ich glücklicherweise nie misshandelt wurde, fühle ich mich nicht ganz wohl dabei, dieses Buch zu bewerten. Was Eltern ihren Kindern antun unter dem Deckmantel der Erziehung ist mitunter unfassbar grausam und die Rechtfertigungen, die diese Eltern für ihr eigenes Tun finden, scheinen absurd und empörend und ich finde auch, dass es kein Weg sein kann, dies zu bagatellisieren oder zu vertuschen. Diese Kinder müssen erfahren, dass sie nicht Schuld daran sind, wenn sie misshandelt werden, und dass sie nicht alleine sind und ihnen geholfen werden kann. Ich möchte Betroffenen aber raten, dieses Buch nur in einer einigermaßen stabilen Phase zu lesen – dann kann es sicherlich hilfreich sein. Alice Miller widmet einen guten Teil dieses Buches der unfassbaren Ignoranz von Journalisten, die es wagen, ihr Werk zu kritisieren und unterstellt ihnen allesamt ein verdrängtes Trauma und hält ihre mangelnde Selbsterkenntnis für nicht akzeptabel. Aus den Zeilen schreit mir der Hass der Autorin und die Wut über die Ungerechtigkeiten, die den Kindern angetan werden, mit voller Wucht entgegen. Sie ist in ihren Ansichten radikal und verteufelt jegliche Arbeit von Psychologen, Psychiatern und Psychoanalytikern – und genau da hat, nach meiner Erfahrung, in den zwanzig Jahren seit Veröffentlichung dieses Buches sehr viel getan. Es ist längst nicht mehr so, dass Psychiater den Patienten mit Medikamenten betäubt nach Hause schicken und Psychoanalytiker Kindern eine blühende Phantasie unterstellen, wenn diese von ihren Misshandlungen berichten. Also: ein brisantes Buch mit interessanten Überlegungen, aber auch mit Vorsicht zu genießen.
Autor: Alice Miller ist Autorin und Psychoanalytikerin (hat sich später aber komplett von der Psychoanalyse distanziert), besitzt den Doktortitel der Philosophie
Titel: Abbruch der Schweigemauer
Verlag: Suhrkamp
ISBN: 9783518399972
Preis: 7,50 Euro